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Aufbruch im Morgengrauen. Der Anblick der schräg von der Sonne beleuchteten Trift und die kühle Luft verleihen Flügel. Nach einem ersten Teilstück, in dem die Trift, so wie sie erhalten ist, wie ein flaches Brett erscheint, überquert man die SP86, die Roccasicura mit Carovilli verbindet, und man findet eine total andere Art von Trift vor, die jedoch nicht weniger faszinierend ist. Auf der anderen Seite setzt sich die Trift in einem leichten Anstieg fort, wobei sie ihre Breite beibehält. Die Oberfläche ist jedoch wahrscheinlich dieselbe, wie sie schon die alten Hirten vorfanden: man folgt hier keinem eigentlichen Pfad, aber es fügen sich die Spuren der Tiere aneinander, sodass die Streckenführung nie gleich ist. Man kommt jedoch ohne Probleme voran, bis zu der Stelle, wo die Trasse von der urwüchsigen Vegetation eingenommen wird. Zum Glück gibt es einen, von den durchziehenden Tieren freigehaltenen Übergang. Die Tiere, die diesen momentan benutzen, sind keine Schafe mehr, sondern große Rinder. Da das Gelände lehmhaltig ist, ist der Weg löchrig wie ein schweizer Käse und man muss aufpassen, wo man hin tritt, um sich nicht einen Knöchel zu verrenken. Ich stelle mir den Morast vor, der entsteht, wenn es regnet und ich schätze mich glücklich wegen der Trockenheit, die in diesem Jahr herrscht ... man kann das Glas ja auch als halb voll ansehen!
Nachdem ich das von Pflanzen überwucherte Gebiet hinter mir gelassen habe, öffnet sich die Trift wieder in voller Breite und kurz danach, auf dem Gipfel des Merocco-Hügels, verläuft sie wieder abschüssig. Der Abstieg zum Tal hin verläuft auf bequemen Feldwegen, wobei die Sonne das Panorama in ein schönes Licht taucht. Am Ende des Abhangs liegt das Fischietto-Gehöft, welches ein anderer Stützpunkt der alten Hirten war. Leider komme ich hier in eine kritische Situation. Ich bin kaum am Gehöft vorbei, als mich zwei große Hunde bemerken und sich an meine Verfolgung machen. Ich habe schon bei vielen Gelegenheiten solche Situationen erlebt, auch schon mehrmals am Tag, weswegen ich mich so wie immer verhalte: ich ignoriere die Hunde und setzte meinen Weg ruhig fort. Normalerweise nähern sich die Hunde dann und bellen, bleiben jedoch in angemessener Distanz. Danach lassen sie von dir ab, wenn sie merken, dass du dich von dem Gelände, das sie bewachen, entfernst. Dieses Mal ist es jedoch anders: sie haben mich erst entdeckt, als ich das Gehöft schon eine Zeit lang hinter mir gelassen hatte und kommen auf mich zu, kaum dass ich ihnen den Rücken zukehre, um den Hügel wieder hinaufzusteigen. Ich bin gezwungen, ihnen meine Vorderseite zu zeigen, um zu vermeiden, dass sie mir zu nahe kommen. Niemand aus dem Hof ruft sie zurück. Zum Glück kommt es zu keinem Kontakt und als ich endlich fast auf dem Gipfel des Hügels bin, entscheiden sie schließlich, dass sie ihre Pflicht getan haben und kehren um. Offensichtlich sind sie der Meinung, dass die Straße und der umliegende Hügel auch zu dem Gebiet gehört, das sie bewachen müssen... wer weiß. Oft habe ich es, wie auch schon bei früheren Wanderungen, mit frei laufenden Hunden zu tun. Das ist schon schlimm genug, aber wenn die Hunde einen solchen Charakter haben, kann es gefährlich werden.
Nachdem ich der (vermeintlichen) Gefahr entgangen bin und den Gipfel des Hügels hinter mir gelassen habe, nähere ich mich langsam Pescolanciano. Eingangs des Dorfes wird die Trift wieder deutlich sichtbar und man erkennt sogar klar, dass sich die Ortschaft entlang ihrer Richtung entwickelt hat.
Ausgangs von Pescolanciano geht es bis zum Lago di Chiauci in einer Abfolge von asphaltierten Abschnitten und Feldwegen, die auf Kosten der Trift entstanden sind, weiter. Auch dieser See ist zum Nachteil der Trift entstanden. Er ist aufgrund der Trockenperiode nun fast leer. Die Satellitenbilder zeigen, dass man sich dank eines Feldweges, der an einem der Markierungssteine der SS650 beginnt, prinzipiell entlang des Seeufers fortbewegen könnte. Der Weg muss zusammen mit dem Damm angelegt worden sein. Die Straße wird nicht mehr genutzt, ist aber, obwohl sie teilweise von hohem Gras bewachsen ist, noch in gutem Zustand. Ich folge ihr bis zum Ufer des Sees, wo sie noch ein wenig weiter führt bis sie von der Vegetation versperrt ist. Nichts zu machen. Auch diesmal komme ich nicht durch. Openstreetmap zeigt mir einen etwas höher gelegenen Pfad an, aber auch der scheint nicht begehbar zu sein. Schade, es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Weg zu verlängern, indem ich den See entlang der Straßen auf den darüberliegen Hügeln umgehe. Die Wege sind alle asphaltiert, aber wohl sehr wenig genutzt, sodass die Vegetation sie an einigen Stellen eingenommen hat: in der Zeit, die ich brauche, um die 5 km Wegstecke zu durchlaufen, bin ich nur einem einzigen Auto begegnet! Glücklicherweise sichert mir der ausgiebige Baumbewuchs in den heißesten Tagesstunden einen optimalen Schutz vor der Sonne. Das letzte Teilstück der Etappe, die mich nach Civitanova del Sannio führt, verläuft dann auf einem steil abschüssigen Weg.
Ich miete mich in einer Herberge ein und mache nach der üblichen Ruhepause einen Rundgang durch das Dorf. Der hier gesprochene Dialekt hat starke neapoletanische Einflüsse. Eine spezielle Sache fällt mir sofort auf. Alle Sträßchen des alten Ortskerns haben den Namen von Antonio Cardarelli, dem bekannten, aus Civitanova del Sannio stammenden Chirurgen. Um eine Gasse von der anderen zu unterscheiden, wurden diese lediglich fortlaufend nummeriert.
Abends erlaube ich mit einen Aperitiv in einer kleinen Bar, um die Atmosphäre des Ortes zu genießen. Die Tische sind alle besetzt, weswegen ein sympathisches englisches Paar mich fragt, ob es sich zu mir setzen darf. Das ist eine einfache und schöne Geste, die leider in vielen Gegenden unüblich geworden ist. Natürlich werden spontan einige Worte mit den Neuankömmlingen gewechselt. Ich entdecke dabei, dass in Wirklichkeit eigentlich ich der Neuankömmling bin, denn die beiden sind offensichtlich hier zuhause und kennen alle. Sie kommen seit 2004 in den Ferien nach Civitanova und haben hier sogar ein Haus gekauft. Wenn der Sommer kommt, verlassen sie England und verbringen hier eine entspannte Zeit mit Musizieren (sie ist Musikerin) und Lesen. Was sie hier am meisten anzieht, aber das ist nur meine persönliche Meinung, ist das langsame Dorfleben: sie sind wirklich an die Umgebung und die Leute gewöhnt.
Ich beende den Tag mit einem Abendessen im Restaurant. Nach dem Essen fragt mich die Geschäftsführerin, die wahrscheinlich neugierig geworden ist, angesichts der Abenteurers, der alleine zu Abend isst, was ich denn in der Gegend mache. Nachdem sie erfahren hat, dass ich die Trift entlang wandere, erzählt sie mir, dass ein großer Rinderzüchter der Gegend jedes Jahr die Weidewirtschaft betreibt. Es ist schön, zu wissen, dass diese Tradition noch nicht vollständig verloren gegangen ist.
Die Strecke des Tages